
Dass ich mal einen Artikel über Tugenden schreiben würde, hätte ich selbst nicht geglaubt. Als bekennende Atheisten, die aber die Gemeinschaft eines Kindergottesdienstes genießen kann und Respekt vor den Weltreligionen hat, erinnert mich das Wort Tugenden entweder an christliche Untugenden und damit an die sieben Todsünden oder an bürgerliche Tugenden (Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Reinlichkeit, Pünktlichkeit), deren soziale Funktion im Aufbau und der Sicherung einer wirtschaftlichen Existenz besteht. Beide Ansätze lösen bei mir Widerstand aus.
Umso erstaunlicher, dass in einem psychologischen Test über Charakterstärken (VIA-IS), Tugenden als „Kerncharakteristiken des menschlichen Funktionierens“ angesehen werden. Charakterstärken sind hierbei psychologische Merkmale (Prozesse oder Mechanismen), welche die Tugenden definieren und über den Test gemessen werden können. Man geht hierbei von sechs Tugenden aus, die sich kulturübergreifend immer wieder finden lassen: Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz (vgl. VIA-IS Interpretationshilfe).
Charakter- oder Persönlichkeitseigenschaften lassen sich messen. Das weiß man in der Psychologie spätestens seit der Einführung der sogenannten BIG 5. Im Rahmen dieses Modells wird angenommen, dass menschliche Verhaltens- und Erlebensweisen auf fünf globalen Persönlichkeitseigenschaften abbildbar sind: Neurotizismus Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit. Ein aktueller Test der Universität Köln in Zusammenarbeit mit dem Start-Up „psaichology“ verbindet die BIG 5 mit persönlichkeitsspezifischen Hinweise zum besseren Umgang mit der Corona-Krise. Wer neugierig ist, was für eine "Covid-19-Persönlichkeit" er/sie/x ist, kann den Test HIER bearbeiten.
Wer darüber hinaus mal etwas ausführlicher etwas über seine Charakterstärken wissen will, kann den aktuell wissenschaftlich am besten untersuchten Fragebogen über Charakterstärken machen: den VIA-IS. („Inventory of Strengths“). Die deutsche Adaptation der Uni Zürich besteht aus 240 Fragen und ist nach kurzer Anmeldung kostenlos verfügbar. Die deutsche Gesellschaft für Positive Psychologie hat zusammen mit der Freien Universität Berlin und der Universität in Potsdam eine Kooperation ins Leben gerufen, die der Forschung dient, aber eben auch ein persönliches Feedback liefert. Dieser "Stärkenansatz" (Mangelsdorf 2020, S. 27) ist ein Kernstück der positiven Diagnostik im Rahmen eines Coachings. Interessant sind bei der Untersuchung der 24 Charakterstärken dann wiederum die persönlichen TOP 5. Und darüber hinaus die Zuordnung der Charakterstärken zu den Tugenden. Für eine erste Interpretationshilfe dient hier sicher sowohl der/die Partner/In als auch ein guter Freund.
Die Frage, wie man das Testergebnis und den Bezug zu den Tugenden in sein Leben integriert, ist letztlich auch ein philosophische. Gilbert Dietrich, Philosoph und Personalmanager aus Berlin hat es auf seinem Blog "Geist und Gegenwart" provokant formuliert: "Du kannst zwar deinen Körper trainieren, aber erkläre mal, dass du trainieren möchtest, ein besserer Mensch zu werden und die Leute um dich herum werden dich für verrückt halten." Gilbert hat die zehn Tugenden für das moderne Leben vom "School of Life"-Gründer und Philosophen Alain de Botton übersetzt. Hier finden sich Begriffe wieder, die nicht aus der Zeit gefallen sind und eher bekannte Knöpfe drücken: "Widerstand, Empathie, Geduld, Selbstlosigkeit, Höflichkeit, Humor, Selbsterkenntnis, Vergebung, Hoffnung, Mut."
